Oben auf dem Gipfel, Gegenlicht

Wie Künstlerinnen und Künstler in Zukunft glücklich und effektiv arbeiten können. Mein Portfolio-Konzept.

Künstlerische Positionen bieten eigene Blickwinkel auf aktuelle Fragestellungen. Ob Gesellschaft, Umwelt oder wirtschaftliche Fragen – alles kann für Kunstschaffende interessant sein und ihre Antworten, Ideen und Positionen können helfen, aktuelle Probleme und Herausforderungen besser zu bewältigen.
Deswegen sind künstlerische Positionen relevant. Nicht nur für Kunstinteressierte, sondern auch für ein eher am Thema interessiertes, aber ansonsten kunstfernes Publikum sowie für Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft.

In diesem Beitrag möchte ich ein Organisationsprinzip vorstellen. Ich habe es mir überlegt, um Kunstschaffenden zu helfen, in einen kontinuierlichen und inspirierenden Arbeitsprozess zu finden.

Perspektivenwechsel: Arbeit in Reihen statt Projekten

Beginnen wir mit einem Perspektivenwechsel. Anstatt in Projekten, denken wir uns die Arbeit in Reihen. So entsteht ein kreativer Fluss, ein kontinuierlicher Prozess mit ständig neuen Positionen. Für die Struktur nehmen wir Meilensteine. Ausstellungen, Dokumentationen und Berichte sind alles nur Meilensteine, aber nicht das Ende der künstlerischen Arbeit. Statt uns auf Projektergebnisse zu konzentrieren, nutzen wir die Resultate nur als Orientierungspunkte für unsere fortlaufende Arbeit. 

Fahrradfahren: Ein Portfolio zum Unterwegssein. 

 

Mein Portfolio-Konzept

Ich möchte die Felder der Vermittlung und eine kontinuierliche Arbeitsweise verbinden. Das gelingt über einen multimedialen Ansatz. Dafür habe ich den Arbeitstitel „Portfolio“ gewählt.

Inspiration und Arbeitsauftrag: Thematische Sammlungen als Werkzeug für persönliche Entwicklung

Traditionell wäre ein künstlerisches Portfolio eine Sammlung von Werken, die eine Person oder Gruppe als repräsentativ für ihr Talent oder Können betrachtet. Ich möchte den Begriff jedoch weiter fassen. Ein Portfolio in meinem Sinne ist eine thematische Sammlung. Portfolios sind eine strukturierte und systematische Methode, um Inspiration zu finden, Themen zu bearbeiten, neue Positionen zu reflektieren und zu dokumentieren. Gleichzeitig wachsen sie immer weiter und sind nie abgeschlossen. 

Auf meiner Webseite erstelle ich beispielsweise schon seit einigen Jahren regelmäßig solche eigenen künstlerischen Portfolios zu verschiedenen Themen: Zum Wald, über das Unterwegssein, ich sammele abstrakte Fotos, Blumenbilder und analoge Filmexperimente. Meine persönlichen Portfolios beinhalten dabei beispielsweise überwiegend Fotos, Texte und Malerei. Aber auch ganz andere Formen wären denkbar: Podcasts, Videos, Lyrik, Klänge und Geräusche…

„Das Zauberwort für einen erfolgreichen Portfolio-Aufbau lautet Diversifikation.“ – boerse.de

Mit meinem Konzept der multimedialen Portfolios möchte ich nicht nur meine eigene Präsentationsmethode auf dieser Webseite reflektieren. Mein Wunsch ist es, einen motivierenden Arbeitsansatz für Kunstschaffende zu entwickeln. Ich möchte sowohl die Praxis der künstlerischen Arbeit wie auch die Vermittlung der Kunst methodisch strukturieren. 

Wie sieht so ein Portfolio aus?

Ein Portfolio ist eine Sammlung mit künstlerischen Positionen zu einem ganz bestimmten Thema. Beispielsweise Zeichnungen, poetische Zitate, Fotos, Malerei, Videos etc.

Portfolios werden veröffentlicht, sind aber nie wirklich fertig. Sie sind thematische Forschungsaufträge und immer wenn neue Gedanken, Fotos, Zitate, Bilder oder sonstige Positionen dazu passen, wachsen sie weiter. In regelmäßiger Durchsicht werden sie umsortiert, neu gegliedert und manchmal fliegen auch alte, überholte Positionen wieder raus. 

Portfolios als Rahmen künstlerischen Schaffens

Meine Portfolios als Rahmen des künstlerischen Schaffens erheben für sich nicht den Anspruch, journalistisch zu informieren. Sie sind einzig ihrer eigenen Wahrheit verpflichtet, die sie mit ihren spezifischen Mitteln einkreisen und immer weiter herausarbeiten. Eine Wahrheit im Sinne von richtig und falsch werden sie vielleicht nicht erlangen. Dafür zeigen sie aber einen Weg auf. Sie führen uns, sie hinterfragen, werfen einen Augenmerk auf etwas Bestimmtes, zeigen auf, klagen an, zweifeln und begeben sich mit uns gemeinsam auf die Suche. Das Publikum wird vielleicht erkennen, dass es zwischen zwei extremen Positionen auch eine Mitte gibt.

Exkurs über die Wahrheit:
Was die Wahrheit ist, kommt immer darauf an. Eine Aussage ist wahr, wenn sie etwas richtig beschreibt. Eine Aussage ist falsch, wenn sie etwas nicht richtig beschreibt. Wahrheit ist also eine Eigenschaft von Aussagen, nicht von Sachverhalten an sich. Nichts kann für sich alleine wahr oder falsch sein. Es ist immer nur die Darstellung, die wahr oder falsch sein kann. Deshalb ist es auch so wichtig, Raum für umfassende Darstellungen zu schaffen. Nicht nur mit Sprache wie in der Wissenschaft, sondern auch mit allen anderen uns zur Verfügung stehenden Mitteln.
Die Wahrheit ist oft relativ und es kommt immer auch auf die Umstände an. Eine Aussage kann in einem bestimmten Kontext wahr sein, in einem anderen Kontext aber falsch. Beispielsweise wäre die Aussage: „Es ist warm“ an einem Sommertag wahr, an einem Wintertag aber falsch. Wie wäre sie an einem sonnigen Februarwochenende, wenn sich die ersten Schneeglöckchen zeigen und der Schnee schmilzt? In einem Bild oder in einer künstlerischen Position kann das Verhältnis dargestellt werden. Die Wirksamkeit von „warm“ im Spiel mit „kalt“. So eine vergleichende Position würde die Umstände berücksichtigen und uns die Qualitäten von warm und kalt besser vermitteln.
Wahrheit ist oft subjektiv und hängt von der persönlichen Perspektive ab. Beispielsweise ist die Aussage „Ich bin wütend“ wahr, wenn die Person wütend ist. Wut ist jedoch ein komplexes Gefühl. Sie kann auch beispielsweise Ausdruck von Trauer sein, wenn eine Person nicht in der Lage ist, mit ihren Empfindungen umzugehen. Dann wäre die Aussage „Ich bin wütend“ nicht mehr zutreffend.
Wir sehen: Wahrheit ist kompliziert und niemals nur schwarz oder weiß. Der Wahrheitsgehalt einer Aussage kann sich ändern, wenn sich die Perspektive ändert und hängt auch von der Komplexität des Sachverhalts ab. Über Gedanken, Texte und künstlerische Positionen zu einem Thema, wie beispielsweise „Wärme“ oder „Wut“, könnte man sich dem Sachverhalt umfassend nähern und daraus vielleicht die beste Antwort und Wahrheit finden.

„Hör auf am Lebenslauf zu arbeiten. Starte den Aufbau eines Portfolios.“ – Dhiyavasu Bhadauria

Ein künstlerisches Portfolio hat sicher eine andere Methode, als wir es im wissenschaftlichen Kontext kennen. Persönlich, subjektiv gefärbt, originell ausgedacht… Aber was ist schon Wahrheit? Aktuell wird immer wieder erschreckend klar, zum Beispiel in Zusammenhang mit dem Klimawandel, dass wissenschaftliche Erkenntnisse in der Praxis keine entscheidende Rolle spielen. Politiker schaffen sich ihre eigenen, alternativen Fakten. Die Wirtschaft findet zu jedem Gesetz irgendein neues Schlupfloch, und jeder Stammtisch hat zu guter Letzt noch mal eine ganz andere Meinung dazu. Ich denke, das können Künstlerinnen und Künstler sicherlich genau so geschmeidig und ganz bestimmt wird es dann über die Zeit schöner und auf jeden Fall auch interessanter. 

Beispiele, wie mit Portfolios umgegangen werden kann:

  • Kunstschaffende können in Zukunft in diesem Sinne ihre Aufgabe viel weiter gefasst verstehen. Sie arbeiten einerseits mehrgleisig und haben immer viele „Eisen im Feuer“. Andererseits arbeiten sie tief und langfristig sehr umfangreich und können dadurch ein Themenfeld breit abstecken. Ihr Ziel ist zukünftig nicht mehr nur das einzelne Werk, eine Ausstellung und ggf. ein Katalog. Ein Portfolio in meiner Lesart kann man viel eher als ein digitales Künstlerbuch verstehen. Arbeit und Dokumentation werden zukünftig viel enger verzahnt. Meine Idee für die Kunst in Zukunft sieht multimediale Portfolios als wachsende, vernetzte, sich entwickelnde große Gesamt-Positionen. Portfolios sind eine Fortführung des Projektes. Ich möchte Kunstschaffende in einem erweiterten Kontext auch als Forscher, Wissenschaftler, Kuratoren, Kritiker und Redakteure verstehen. 
  • Kulturelle Institutionen könnten in Zukunft in diesem Sinne unter ihrem Dach viele solcher Portfolios vereinen, neue Portfolios beauftragen und immer tieferes und umfassenderes Wissen ansammeln. 
  • Stiftungen vermögen entsprechend ihrer Satzung die Patenschaft für passende Portfolios zu übernehmen und fördern dadurch gezielt frische Positionen. 
  • Ausstellungsräume werden in Zukunft eher eine Art „Situation Room“ und geben aktuelle Einblicke in momentan stattfindende Prozesse. 
  • Kuratierende werden mit ihren Ausstellungsbudgets eigene Aufträge an Kunstschaffende vergeben können, die anschießend auf ihren Gebieten weitere Forschungen unternehmen und damit an Portfolios anknüpfen oder neue Portfolios erstellen. Wie in einem Magazin können verschiedene Positionen von Kuratoren und Kuratorinnen zu einem Thema gebündelt werden, die Darstellungsform unterscheidet sich aber und geht weit über den Anspruch eines Magazins hinaus. Sponsoren können sehr viel gezielter angesprochen werden und die inhaltliche Verantwortung wird gestreut: Innerhalb eines Portfolios können auch ganz unterschiedliche Positionen vertreten sein. So kann der Problematik der Cancel Culture in brisanten thematischen Umfeldern begegnet werden. 
  • Besucherinnen und Besucher schaffen sich schließlich einen Überblick über bisher gesammelte Erkenntnisse. Sie können in sozialen Medien ihren Lieblingsportfolios in Form von dazugehörigen Hashtags folgen und je nach Bedarf tiefer in die Materie eintauchen, indem sie die dazugehörige Homepage bzw. die Blogs der Kunstschaffenden besuchen und dort aktuell auf dem Laufenden gehalten werden.

Kunst ist ein integraler Bestandteil des sozialen und kulturellen Lebens. Durch Kunst können wir vieles besser verstehen und dem Leben Bedeutung geben. Während die Kunst seit Jahrhunderten besteht und sich stetig weiterentwickelt, stellen soziale Medien und die Art und Weise, wie Projekte durchgeführt werden, Kunstschaffenden vor neue Herausforderungen. 

Der Kunst mehr Bedeutung für das eigene Leben geben

Zum Abschluss dieses Beitrags möchte ich zwei Herausforderungen genauer betrachten. Zum einen die Tatsache, dass die sozialen Medien oft nur oberflächlich sind und zum anderen, dass Projekte ein definiertes Ende haben. Das widerspricht den wesentlichen Ideen der Kunst, von Bedeutung und Entwicklung.

Mein Hintergedanke ist, dass aus dem Verständnis dieser beiden Probleme mein Portfoliokonzept etwas mehr Gewicht bekommt.

Das Problem der sozialen Medien

Soziale Medien wie Twitter, Instagram oder ein Video bei Youtube sind eine gute Möglichkeit, um gesehen zu werden. Die Aufmerksamkeit des Publikums ist dort aber nur kurz und wird der komplexen Thematik und der gewünschten Tiefe und Betroffenheit der künstlerischen Position selten gerecht. Eine Folge ist, dass viele Themen nur vereinfacht dargestellt werden. Die sozialen Medien sind zunächst vielleicht kurz von Vorteil, um Aufmerksamkeit zu gewinnen. Langfristig sind sie aber ungünstig, wenn nichts weiter kommt bzw. wenn der nötige Hintergrund fehlt.

Soziale Medien funktionieren nur als Plattform für Kunst, wenn die Künstlerin oder der Künstler bekannt sind. Ungewohnte Sichtweisen, Avantgarde und künstlerische Positionen, die nicht im Mainstream sind, haben hier keine große Reichweite. Manchmal gibt es natürlich „One-Hit-Wonder“, beispielsweise lustige kleine Filme. Nur weiß dann meistens keiner mehr, vom wem sie ursprünglich eigentlich waren.

Schließlich ist ein Problem der sozialen Medien, dass sie keinen Dialog ermöglichen. Oft wird das Publikum nur als Rezipient gesehen und kann nicht aktiv an der Kunst teilhaben. Soziale Medien ermöglichen es nicht, einen direkten Dialog zwischen Kunstschaffenden und Publikum zu führen.

Der hinterfragende, suchende Ansatz von vielen Kunstschaffenden lässt sich oft nicht kurz und einfach darstellen. Wie können künstlerische Ideen so vermittelt werden, dass sie besser sichtbar und greifbarer werden? Hier braucht es einen umfassenderen neu gedachten Ansatz für die Kunstvermittlung. Es muss ein kreatives und interaktives Umfeld geschaffen werden, welches die digitale Welt und die analoge Wirklichkeit gleichermassen darstellen kann.

Das Problem der Projekte

Projekte haben einen Anfang und ein Ende. Jedes Œuvre hat jedoch einen roten Faden, etwas, das über die zeitliche Begrenztheit der Projekte hinausführt.

Kunstschaffende arbeiten heute oft nur projektweise. Jedes Projekt hat aber nach seinem Anfang immer auch ein Ende, auf das oft nicht nur eine finanzielle Dürreperiode, sondern auch ein schwermütiges Motivationstief folgt. Dabei hätten die meisten Künstlerinnen und Künstler aber viel mehr mitzuteilen, als sie im zeitlichen Rahmen des Projektes ausdrücken konnten. Wie können sie sich motivieren, wie können sie weiter machen und woher nehmen sie ihre Inspiration?

Im Prinzip können wir in jedem Werk eine rote Linie entdecken. Es gibt immer einen Faden, der sich durch das Œuvre zieht. Bei manchen Kunstschaffenden ist dieser Faden offensichtlich. Sie wollen ein bestimmtes Thema konsequent weiterarbeiten und es von allen Seiten beleuchten. Bei anderen ist der rote Faden vielleicht nicht ganz so gut greifbar. Dennoch ist er da. Oft ist es ein bestimmtes Material, eine bestimmte Technik oder ein Stil, der sich durch alle Arbeiten zieht. Langfristig interessant ist daneben aber vor allem auch das persönliche Thema, welches sich beim reflektierenden und umfassenden Blick über ein künstlerisches Werk herauskristallisiert.

Wer ausschließlich die kurz und knackig zusammengefassten Ergebnisse eines Prozesses sieht, bekommt nur einen Teil der Wahrheit. Wichtig ist jedoch auch der Diskurs. Aspekte und Überlegungen des Diskurses sind ebenso wie das Ergebnis selbst Teil der künstlerischen Position.

Durch das vorgegebene abrupte Ende können viele Ideen nicht ihr volles Potenzial und die maximale Strahlkraft entfalten. Viel Potenzial verpufft und geht verloren. Gleichzeitig ist aber der öffentliche Druck, der mit dem Erreichen eines Projektziels einhergeht, auch sehr wichtig. Druck hilft um einzelne Positionen fertigzustellen, um „noch einmal alles geben“ und um die eigene Arbeit abzugrenzen. Die Arbeit in Projekten hat also Vor- und Nachteile. Der Vorteil ist die Struktur, der Nachteil ist das Ende. Tatsache ist jedoch immer: Die künstlerische Wirklichkeit ist in Wirklichkeit kein Projekt.