Poetische Fotos aus Berlin

Küchentisch meiner alten Wohnung in Berlin

Fotos einer Stadt schaffen über die Zeit einen persönlichen Raum der Erinnerungen. Hier möchte ich meine Berlin-Fotos zusammenfassen. Nachdem ich früher zwei Jahre dort gelebt habe, bin ich inzwischen nur noch selten in Berlin. Aber bei jedem neuen Besuch mache ich natürlich neue Fotos. An sonnigen Sommerabenden ebenso wie an verregneten Novembermorgen…

In diesem Portfolio sollen nur wenige, aber dafür besondere, interessante Bilder aus Berlin zu sehen sein. Und nach jedem Besuch kann die Sammlung um ein paar neue Fotos wachsen.

Wie Berlin ist, kommt darauf an wen man fragt. Berlin ist Party, Geschichte, Politik, viel zu groß, unfreundlich, gentrifiziert, Hauptstadt, das grüne Umland, international, kreativ, Techno, arm aber sexy, häßlich und grau…

Falls man der Stadt eine eigene Poesie zusprechen möchte, wäre es jedenfalls eher kein gemütlicher, heimelig-romantischer Zauber. Berlin ist nicht das Venedig des Nordens oder das Paris des Ostens. Aber etwas Eigenes ist Berlin auf jeden Fall.

Schnappschüsse mit der legendären LOMO LC-A:

Ein Kriterium für meine Auswahl war „poetisch“. Ich wollte „dichterische“ oder „lyrische“ Bilder aussuchen und meinte damit den Wunsch, in irgendeiner Form beseelte Fotos zu finden. Deshalb sind es auch nur analoge Fotos. Im Gegensatz zu digitalen Fotos wirken analoge Fotografien einheitlich, rund und mehr aus einem Guss. Wie eine Glocke ohne Sprung. Die Dinge scheinen in der physischen Bildebene aufzugehen und wirken eben nicht ausgeschnitten oder isoliert, wie es oft bei digitalen Fotos der Fall ist. Die Emulsionsschicht ist wie eine Luftschicht, ein freier Raum, von Licht durchflutet. Im Bereich der Emulsion ist die Atmosphäre zum leben und atmen für das Bild. Es wird nichts berechnet, reduziert oder korrigiert. Die bildgebenden Prozesse sind chemischer Zauber, alchemistische Verwandlung… Echte, analoge Fotos sind physische, beinahe haptische Bilder.

Schwarzweiße Fotos von Wänden und Spiegelungen: 

Drei inhaltliche Kriterien für ein poetisches Foto sind beispielsweise:

  • Wie ist es fotografiert? Der spielerische Umgang mit dem Was. Zufall, Glück oder Kunstgriff. Jedes Foto ist eine Abstraktion.
  • Muss das Foto authentisch sein? Die Wirklichkeit liegt auch oft in falschen Farben, verwackelt oder unscharf vor uns.
  • Gewöhnlich oder alltäglich? Alles was meinen Blick festhält, ist wert genug fotografiert zu werden.

Summer in the city, sommerliche Fotos aus Berlin: 

Unser Sehen ist ein sehr komplexer Vorgang und findet auf mehreren Ebenen statt. Die Welt, wie wir sie sehen, entsteht nicht nur durch den visuellen Reiz. Auch alle möglichen psychologischen und durch die Evolution tief in uns verankerte Interpretationswege formen unser Erleben und das Verständnis einer Situation.
Wir schaffen im Sehen beispielsweise blitzschnelle Bezüge zu alten Bildquellen, die wir dabei abgleichen. Würden wir hier immer nur nach dem Was fragen, wäre die Welt schnell langweilig. Das Was ist alt, bekannt und niemals wirklich neu. Interessanter ist vielmehr das Wie. Wie es klingt, wie es sich anfühlt, wie es aussieht… Nur wenn wir nach dem Wie fragen, können wir etwas Neues erleben. Nur im Wie bekommen die Fotos ihre eigene Wirklichkeit und eine Stadt ihre eigene Qualität. Straßen, Häuser, der Klang der S-Bahntüren, der Himmel über Berlin.

Fünf technische Kriterien für ein poetisches Foto sind beispielsweise:

  • Das Licht entscheidet über das Foto.
  • Die Tiefenschärfe und der Fokus können das Augenmerk auf ein bestimmtes Detail richten.
  • Die Verschlusszeit bestimmt den Augenblick.
  • Das Korn des Films kann poetisch, billig oder glanzvoll wirken, jeder Film hat seine materialimmanenten Eigenschaften und Grobheiten.
  • Das Objektiv, Bokeh, Lensflares und Vignettierungen. Jedes geschliffene Glas wirkt anders, zeichnet die Ecken in einer eigenen Art und Weise, verzerrt und verzaubert.

Weniger ist oft mehr. Wenn es zu viele Informationen gibt, geht der Inhalt verloren. Wir helfen uns dann, indem wir nach etwas greifen, was wir verstehen. Ist dort Text, fangen wir an zu lesen. Sind dort zu viele Dinge erkennbar, landen wir sehr schnell beim „Was“ der Fotos und so wird es auch recht bald langweilig.

Himmel über Berlin. Fotos vom Blick nach oben: 

Finden wir dagegen nur wenige Informationen, neigt unser Inneres dazu viel hineinzuinterpretieren. Die Leere füllen, ordnen und Sinn geben. Das ist ein viel mehr lebendiger Prozess, der uns anregen kann und unserem Intellekt schmeichelt. Mit etwas Freiraum können die Dinge ihren eigenen Klang entwickeln und der Betrachter seiner persönlichen Resonanz lauschen. So gesehen sind poetische Fotos wie ein visuelles Konzert.

Abendlichter und nasse Straßen Berlins: 

Im Foto können wir als Betrachter unsere eigenen Empfindungen entwickeln, während wir im Gemälde viel mehr in die Welt des Künstlers geschickt werden. Für die Rezeption über einen Künstler ist es wichtig zu verstehen, was ihm wichtig war. Natürlich kann der Fotograf ebenfalls Gefühle in sein Werk einbeziehen. Anders als im gemalten Bild fließen die Gefühle des Fotografen beim Auslösen aber nicht so direkt und unmittelbar in das Bild. Es kann z.B. mit einem Selbstauslöser auch automatisch erstellt werden und ist beliebig oft reproduzierbar.

Novembergraue Fotos an einem verregneten Vormittag: 

Auf der Suche nach bunten Farben an einem Novembertag: 

Was die Gefühle im Foto angeht, ist anschließend der Betrachter gefragt. Nachdem das Foto im 19. Jahrhundert immer mehr an die Stelle des gemalten Portraits getreten war, ist der ganze Habitus rund um die Fotografie bis heute teilweise sogar ausgesprochen sentimental geworden. Fotos sind unsere Erinnerungen, Fotos sind Eitelkeit, Götzen, Projektionsfläche für Eros und Liebe: „Dies Bildnis ist bezaubernd schön…“

Schon Narziss betrachtete verzückt sein Abbild im Spiegel eines Baches.

„Man muss sich doch klarmachen, wie unchristlich und heillos eitel die Menschheit erst werden wird, wenn sich jeder für seine Goldbatzen sein Spiegelbild dutzendweise anfertigen lassen kann. Es wird eine Massenkrankheit von Eitelkeitswütigen ausbrechen, denn wenn sich jedes Gesicht dutzendweise verschenken und bewundern lassen kann, so macht das die Menschen gottlos oberflächlich und gottlos eitel.“ – Entsetzte Äußerung eines Zeitzeugen über das ‚neue‘ Verfahren der Daguerreotypie von 1841.

Aus unserer heutigen Perspektive, vor dem Hintergrund der digitalen Fotografie, wird die Entfremdung zwischen dem Fotografen und seinem Motiv ein bisschen aufgehoben, wenn man analog fotografiert. Oft fotografiert man dann achtsamer und langsamer. Ein Handabzug aus der Dunkelkammer, mit Kaffee entwickelt, ist tatsächlich auch ein Unikat und nicht einfach wieder genau gleich reproduzierbar. Spuren von Kratzern, Staub und Körnigkeit schaffen einen Eindruck von Zeit und Vergänglichkeit.

Ein verwunschener Spaziergang durch Neukölln:

Das Spiel mit der Materialität, das Eingreifen, die Überraschung und die Möglichkeit den bildschaffenden Prozess mitzugestalten macht für mich den Zauber der Fotografie aus. Und in diesem Sinne ist es für mich auch ein bisschen wie Malen und Zeichnen.