Anfang Dezember ist eine schöne Zeit zum Verreisen. Alle sind schon auf der Zielgeraden des Jahres, irgendwie muss man aber doch den Winter feiern und eine kleine Reise ist eine gute Möglichkeit, um die vergangene Zeit abzuschließen und eine Neue zu beginnen.
Dieses Jahr bin ich nach Lemberg gereist. Lemberg, oder Lwiw bzw. Lviv, ist in der Ukraine, im östlichen Teil von Galizien. Nicht zu verwechseln mit dem Galicien in Spanien, wo man auf dem Jakobsweg pilgert.
„Wenn die Atmosphäre passt, dann kann man auch Kaffee aus Aschenbechern trinken!“
Das vielleicht schönste Buch zur Einstimmung ist „Jimi Hendrix live in Lemberg“ von Andrej Kurkow.
Ich lese seit vielen Jahren immer wieder alle seine Bücher. „Petrowitsch“ und „Picknick auf dem Eis“ habe ich bestimmt zehnmal gelesen. Aber von Lemberg hört man hier in Deutschland eigentlich nicht so oft und ich bin erst durch dieses Buch, durch die eigentümliche Art und Weise wie man hier z.B. Nierensteine entfernt und Hippie sein kann, auf die Stadt gekommen.
Leopold von Sacher-Masoch, nach dem der Begriff „Masochismus“ benannt ist, stammt übrigens auch aus Lemberg. Von ihm kommen Aussagen wie:
„Daß das Weib, wie es die Natur geschaffen und wie es der Mann gegenwärtig heranzieht, sein Feind ist und nur seine Sklavin oder seine Despotin sein kann, nie aber seine Gefährtin. Dies wird sie erst dann sein können, wenn sie ihm gleich steht an Rechten, wenn sie ihm ebenbürtig ist durch Bildung und Arbeit.“
Als Schriftsteller hat er daneben auch viel über das Leben der Juden in Galizien geschrieben und sich gegen den Antisemitismus eingesetzt.
Nunja, das ist aber alles eigentlich noch kein Grund für eine Reise nach Lemberg. Entscheidend ist, dass es eine wirklich wunderschöne Stadt ist! Bei Instagram kann man z.B. forgottengalicia folgen und Fotos von alten Häusern, verwitterte Türen, bröckelige Mauern, winkelige Straßen und finstere Hinterhöfe beschauen.
Ein fantastischer Reiseführer für Lemberg ist der von Brigitte Schulze. Sie macht so richtig Lust die Stadt zu erkundschaften und man bekommt nebenbei Appetit auf all die Torten, Wareniki und das gute lokale Bier Lwiwske bzw. 1715.
Ist man dann vor Ort, kann man sich zusammen mit netten anderen Leuten auf den freien Stadtführungen von Lviv Buddy auch noch die letzen verborgenen Winkel und geheimen Ecken der Stadt zeigen lassen.
Es fällt leicht sich in Lemberg vertraut und wohl zu fühlen. Die Menschen sind sehr nett – im Trolleybus wird man auch mal eingeladen, wenn man keine 3 Hrywnja für die Fahrkarte (ukrainisch: Kwitok) hat und die ukrainischen Frauen gelten überhaupt als die schönsten der Welt.
Das Essen ist vorzüglich (mit viel Dill) und für uns aus dem Ausland auch im Verhältnis sehr günstig. In einem einfachen studentischen Lokal mit Selbstbedienung kann man sich für 2-3 Euro so richtig satt essen.
In dem sehr feinen Restaurant „Atlas“ direkt am Rynok-Platz bekommt man bei fantastischer Aussicht z.B. ukrainischen Borschtsch, Bratkartoffeln, ein dickes Gänsebein, Rotwein und Apfelstrudel mit Eis und bezahlt für so ein opulentes Abendmahl weniger als 15 Euro.
Eine schicke Designerwohnung mit AirBnB im Stadtzentrum kostet grob gesagt 30 Euro die Nacht, ein Hostel 4-5 Euro.
Was die Ukraine an sich sehr attraktiv macht, ist die Visumfreiheit – man kann als EU-Bürger mit seinem Reisepass einfach so einreisen. Lemberg hat einen ganz neuen und gar nicht so kleinen Flughafen und in einer halben Stunde ist man von dort mit dem Trolleybus Nr. 9 für umgerechnet 10 Cent im Zentrum. Richtig toll ist aber auch der Bahnhof – selbst wenn man mit dem Flugzeug oder mit dem Bus da ist, lohnt sich ein Besuch der riesigen alten Bahnsteigshallen und des Empfangsgebäudes.
Ich gehe in einer fremden Stadt am liebsten einfach frei der Nase nach sehr viel spazieren. So erlaufe ich mir die Straßen und Ecken. Um einen ersten Eindruck des Zentrums der Altstadt rund um den Marktplatz (Rynok) zu gewinnen, reicht ein halber Tag.
Etwa 2 Stunden dauert der Spaziergang hoch und runter zum Wysoky Samok, wo man einen guten Rundblick hat.
Die Kirchen abzuklappern lohnt sich auch für einen Einstieg. Besonders die Armenische Kathedrale ist wunderschön und hat fantastische Wandmalereien des polnischen Malers Jan Henryk Rosen aus den 1920er Jahren.
Es gibt auch sehr schöne Parks (z.B. den Stryjsky Park), das wäre aber eher etwas für einen der späteren Tage, wenn man sich vom Trubel der Stadt erholen möchte.
Beim Erkundschaften fotografiere ich immer sehr gerne und viel. Um schöne Fotos zu machen, muss man allerdings auch viel ausprobieren und es braucht Zeit für Experimente. Man nähert sich den Motiven meistens über mehrere Aufnahmen und macht unterwegs auch viele schlechte Fotos. Ich persönlich bin froh, wenn ich am Ende eine Quote von 1:5 mit ordentlichen Fotos habe, welche irgendwie sinnig die Reise dokumentieren. Wenn ich Glück habe ist unter 25-30 dann auch ein richtig gutes Foto dabei.
Hilfreich ist beim fotografieren, wenn man ein bestimmtes Thema findet. Z.B. technisch könnte man ein fotografisches Phänomen an verschiedenen Motiven ausprobieren. Reflexionen und Spiegelungen sind auch sehr dankbare Spielwiesen. In Lemberg haben mich immer wieder auch die Autos sehr fasziniert. Viele osteuropäische Modelle kennt man in Deutschland gar nicht und z.B. die Stadtverwaltung hat auch noch so richtig alte LKWs in Betrieb, die Strassenbahnschienen reparieren, Oberleitungen flicken oder Baumaterialien transportieren.
Für eine private Urlaubsreise kann es im Übrigen gleichfalls gut sein, wenn man ein eigenes kleines Leitmotiv bzw. einen „Auftrag“ hat. Vielleicht erforscht man etwas, schreibt für einen Blog, sucht Spuren der Geschichte oder interessiert sich für das Leben von einer bestimmten Minderheit? Dann kann man für sein Thema recherchieren und viel besser mit Menschen in Kontakt treten und etwas Neues lernen. Vielleicht hat der ein oder andere auch Familie in der Gegend gehabt? Auf dem Lytschakiwski-Friedhof kann man sehr stimmungsvoll zwischen Efeu umrankten Gräbern und unter alten Bäumen spazieren gehen und findet durch die verwobene Geschichte auch so manchen deutschen Namen.
Zur Erinnerung sind Fotos das Wichtigste. Schön ist aber zusätzlich auch immer etwas, das einen später im Alltag begleiten kann. Souvenirs sind leider meistens nicht so nützlich, aber Matrjoschka-Puppen und kleine Glöckchen gibt es natürlich schon auch. Daneben könnte man aber z.B. auch Schallplatten kaufen, Tee aus den Karpaten, Steichholzschächtelchen, Kaffee oder wunderschön gemalte Kinderbücher.
Unterwegs geht die Zeit anders. Vier Tage können so lang sein, dass man sich auch Jahre später noch lebhaft erinnert. Vier Tage zuhause verblassen leider viel zu oft und bekommen nicht die selbe Achtsamkeit geschenkt. Trotzdem kann man unterwegs auch oft erleben, dass man eben doch sehr fremd ist. Mich persönlich stört spätestens nach ein paar Tagen immer, dass man nur nimmt, immer nur konsumiert aber neben Plastikflaschen eher keine bleibenden Spuren hinterlässt.
Deswegen finde ich es so besonders schön, wenn sich auf einer Reise auch etwas persönlichere Begegnungen ergeben. Eine Mutter habe ich nach dem Weg gefragt und weil es so kompliziert war, sind wir einfach eine halbe Stunde zusammen spazieren gegangen. Ein Student hat mir meine Busfahrkarte bezahlt, weil ich kein Kleingeld hatte. Es gibt die Guides der kostenlosen Stadtführung oder das Mädchen vom Kaffee, wo ich immer morgens gefrühstückt habe…
Daneben trifft man viele andere ebenfalls auf ihre art interessante Menschen: Strassenmusikanten, Punks die ein paar Hrywnji abstauben möchten, alte Männer im Bus oder Frauen, die mit schweren Taschen bepackt am Strassenrand kurz innehalten. Interessant sind auch Restaurants in Bahnhofsnähe: Dort kann man wunderbar Menschen studieren und sich dazu Geschichten ausdenken.
Mit etwas Neugierde und gutem Mut, dass die meisten Leute schon ganz freundlich sein mögen, kann einem eigentlich nichts passieren und die Reise einfach zu einem persönlichen und kostbaren, lange nachklingenden Erlebnis werden.